Sicherheit ohne Sprache – Deutschlands neue Außenpolitik und ihr Kommunikationsdefizit - Deutschland nach der Aufmerksamkeit
- Kevin Kienle

- vor 7 Tagen
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Zeitenwende ohne Resonanz
Als der Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „Zeitenwende“ sprach, war das Pathos groß. Der Begriff markierte einen Bruch mit Gewissheiten, ein Ende strategischer Bequemlichkeit, den Eintritt in eine Welt, in der Sicherheit nicht mehr delegiert werden konnte. International wurde dieser Moment registriert – kurzzeitig. Doch wenige Monate später wich die Aufmerksamkeit einer nüchternen Beobachtung: Deutschland sprach viel über Veränderung, aber es blieb unklar, wie es diese Veränderung eigentlich erzählen wollte.
Wenn Alex Karp heute konstatiert, dass international kaum noch über Deutschland gesprochen werde, dann trifft diese Diagnose die Außen- und Sicherheitspolitik besonders hart. Denn Sicherheitspolitik ist nicht nur eine Frage von Haushaltslinien, Beschaffungsprozessen und Bündnistreue. Sie ist eine Frage von Verlässlichkeit, Lesbarkeit und politischer Sprache.
Deutschland hat seine Sicherheitsdoktrin verändert – oder zumindest angekündigt, sie zu verändern. Doch im globalen Diskurs ist diese Veränderung kaum als kohärente Erzählung angekommen. Das ist kein semantisches Problem. Es ist ein strategisches.
Sicherheitspolitik ist Kommunikation
In der internationalen Ordnung gilt ein ehernes Gesetz: Sicherheitspolitik wirkt nur, wenn sie verstanden wird. Abschreckung funktioniert nicht allein durch Fähigkeiten, sondern durch Glaubwürdigkeit. Bündnisse halten nicht nur durch Verträge, sondern durch Erwartungssicherheit. Staaten beobachten einander permanent – nicht nur in ihren Handlungen, sondern in ihrer Sprache.
Deutschland hat nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine sicherheitspolitische Neupositionierung eingeleitet. Doch diese Neupositionierung wurde kommunikativ stark nach innen vermittelt – als historischer Schritt, als moralische Pflicht, als haushaltspolitische Herausforderung. Nach außen hingegen blieb sie fragmentarisch.
Internationale Partner fragen weniger: Wie schwierig ist das für euch? Sie fragen: Was bedeutet das für uns?
Genau hier beginnt das Problem der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: Sie erklärt sich – sie sendet aber selten klare Signale.
Die Zeitenwende als nationales Narrativ
Der Begriff „Zeitenwende“ war kraftvoll – aber er blieb erstaunlich national. Er richtete sich an ein deutsches Publikum, an eine Gesellschaft, die jahrzehntelang Sicherheit ausgelagert hatte. Er war ein Weckruf nach innen, keine strategische Botschaft nach außen.
Internationale Akteure hörten den Begriff, warteten aber auf dessen Übersetzung in konkrete Erwartungen: Welche Rolle will Deutschland künftig spielen? Welche Risiken ist es bereit zu tragen? Wo übernimmt es Führung – und wo bewusst nicht?
Diese Fragen wurden nur zögerlich beantwortet. Stattdessen entstand der Eindruck eines Landes, das sich seiner neuen Rolle bewusst ist, aber noch immer versucht, sie so geräuschlos wie möglich auszufüllen.
Im geopolitischen Diskurs jedoch gilt: Wer Führung vermeiden will, wird trotzdem geführt – nur eben von anderen.
Die deutsche Vorsicht als internationales Rätsel
Deutschlands sicherheitspolitische Vorsicht ist historisch begründet. Sie speist sich aus Verantwortung, aus Schuld, aus dem Wunsch, militärische Macht niemals leichtfertig einzusetzen. Diese Haltung verdient Respekt. Doch sie wird international zunehmend missverstanden.
In einer Welt, in der militärische Gewalt wieder offen eingesetzt wird, gilt Vorsicht nicht automatisch als Tugend. Sie kann als Unentschlossenheit gelesen werden. Als Zögern. Als mangelnde Bereitschaft, Kosten zu tragen.
Alex Karps Blick von außen ist hier aufschlussreich: Er kommt aus einer politischen Kultur, in der Sicherheitspolitik nicht nur moralisch legitimiert, sondern strategisch kalkuliert wird. Dass Deutschland in dieser Logik kaum noch als diskursiver Akteur auftaucht, liegt auch daran, dass es seine Vorsicht nicht in eine aktive Rolle übersetzt hat.
Militärische Fähigkeiten ohne strategische Erzählung
Deutschland investiert in seine Verteidigung. Es erhöht Ausgaben, modernisiert Strukturen, diskutiert über neue Fähigkeiten. Doch militärische Fähigkeiten entfalten außenpolitische Wirkung nur dann, wenn sie eingebettet sind in eine klare strategische Erzählung.
Diese Erzählung müsste beantworten:
Wofür werden diese Fähigkeiten eingesetzt?
In welchen Szenarien übernimmt Deutschland Verantwortung?
Welche Erwartungen sollen Partner und Gegner daraus ableiten?
Stattdessen dominiert oft eine Sprache der Rechtfertigung: Man erklärt, warum etwas notwendig ist, nicht wofür es steht. Internationale Debatten aber interessieren sich weniger für innenpolitische Begründungen als für außenpolitische Konsequenzen.
So entsteht eine Lücke zwischen Handlung und Wahrnehmung: Deutschland tut mehr, als man ihm zutraut – aber es wird nicht dafür wahrgenommen, weil es diese Taten nicht strategisch rahmt.
Bündnistreue ist keine Erzählung
Deutschland betont seine Bündnistreue – zur NATO, zur EU, zu multilateralen Strukturen. Das ist wichtig. Doch Bündnistreue allein erzeugt keine Sichtbarkeit. Sie ist die Grundvoraussetzung, nicht das Profil.
Internationale Aufmerksamkeit erhalten jene Akteure, die innerhalb von Bündnissen Akzente setzen: durch Initiativen, durch Prioritäten, durch politische Führung. Wer sich ausschließlich als verlässlicher Teil versteht, riskiert, als austauschbar wahrgenommen zu werden.
Karps Diagnose, man spreche nicht mehr über Deutschland, lässt sich hier konkretisieren: Deutschland wird als Teil des Westens wahrgenommen, aber selten als dessen strategischer Impulsgeber.
Sprache als sicherheitspolitisches Instrument
Sicherheitspolitik ist auch Sprachpolitik. Begriffe wie Abschreckung, Resilienz, Verteidigungsbereitschaft oder strategische Autonomie sind keine neutralen Vokabeln. Sie strukturieren Erwartungshaltungen.
Deutschland verwendet diese Begriffe oft defensiv – erklärend, einhegend, relativierend. Andere Akteure verwenden sie offensiv – setzend, fordernd, mobilisierend.
Das führt zu einer asymmetrischen Wahrnehmung: Während andere Staaten ihre sicherheitspolitischen Linien klar artikulieren, erscheint Deutschland als Land, das sich selbst von seinen Aussagen distanziert, noch während es sie formuliert.
In internationalen Debatten erzeugt das Unsicherheit. Und Unsicherheit ist das Gegenteil von Abschreckung.
Die Angst vor Eskalation – und die Angst der anderen vor deutscher Passivität
Ein zentrales Motiv deutscher Sicherheitspolitik ist die Angst vor Eskalation. Diese Angst ist rational. Doch sie ist nicht exklusiv. Auch andere Staaten fürchten Eskalation – sie ziehen daraus jedoch andere Schlüsse.
Während Deutschland versucht, Eskalation durch Zurückhaltung zu vermeiden, fürchten manche Partner Eskalation gerade durch mangelnde Klarheit. Sie fragen sich, ob Zurückhaltung nicht falsch verstanden wird – als Schwäche, als fehlende Entschlossenheit.
Hier prallen zwei Sicherheitslogiken aufeinander. Deutschland hat es bislang versäumt, seine Logik überzeugend zu vermitteln. Das Resultat ist kein Vertrauensverlust, aber ein Vertrauensdefizit in Bezug auf Führung.
Außenpolitik zwischen Moral und Realpolitik
Deutschland versteht seine Außenpolitik gern als wertebasiert. Menschenrechte, Völkerrecht, multilaterale Ordnung – all das sind zentrale Bezugspunkte. Doch in einer Welt zunehmender Machtkonkurrenz geraten Werte unter Druck.
Andere Akteure lösen diesen Konflikt, indem sie Werte strategisch instrumentalisieren oder offen relativieren. Deutschland versucht, ihn durch Abwägung zu moderieren. Das wirkt integer, aber oft unentschlossen.
Internationale Aufmerksamkeit entsteht jedoch dort, wo Konflikte sichtbar bearbeitet werden. Wer versucht, sie sprachlich zu glätten, verliert an Profil. Karps Satz verweist auch auf diese Spannung: Deutschland wirkt moralisch korrekt, aber strategisch schwer greifbar.
Sicherheitspolitik als Standortfaktor
Die sicherheitspolitische Unsichtbarkeit bleibt nicht auf diplomatische Zirkel beschränkt. Sie wirkt sich auf wirtschaftliche Entscheidungen aus: Investitionen, Lieferketten, Standortbewertungen. Sicherheit ist zu einem zentralen Faktor wirtschaftlicher Planung geworden.
Wenn Deutschland international nicht als sicherheitspolitisch handlungsfähig wahrgenommen wird, verliert es an Attraktivität – nicht dramatisch, aber schleichend. Städte und Regionen, auch solche mit industrieller Stärke wie Nürnberg, spüren diese Verschiebungen indirekt: in der Ansiedlung neuer Technologien, in der Kooperation mit internationalen Partnern, in der Frage, wo Zukunft gedacht wird.
Warum über Sicherheit gesprochen wird – oder nicht
Über Sicherheitspolitik wird international dort gesprochen, wo Klarheit herrscht. Klarheit über Interessen, über rote Linien, über Verantwortlichkeiten. Deutschland sendet viele Signale – aber sie ergeben selten ein klares Bild.
Das ist der Kern von Karps Diagnose: Deutschland ist präsent, aber nicht prägend. Aktiv, aber nicht agenda-setzend. Engagiert, aber schwer lesbar.
In einer Welt zunehmender Unsicherheit ist Lesbarkeit selbst ein sicherheitspolitisches Gut.
Die verlorene Stimme der Mitte
Deutschland sieht sich gern als vermittelnde Macht, als Stimme der Mitte. Doch Mitte bedeutet nicht Sprachlosigkeit. Sie bedeutet Übersetzungsleistung – zwischen Macht und Moral, zwischen Abschreckung und Diplomatie.
Diese Übersetzungsleistung hat Deutschland in der aktuellen sicherheitspolitischen Debatte nur unzureichend erbracht. Es hat gehandelt, aber zu wenig erzählt. Es hat Verantwortung übernommen, aber sie selten offensiv formuliert.
Wenn Deutschland wieder Teil des internationalen Gesprächs werden will, muss es seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht radikalisieren – sondern artikulieren. Klarer, strategischer, weniger entschuldigend.
Der vierte Teil der Serie wird den Blick auf die ökonomische Dimension richten: Warum Deutschlands wirtschaftliche Stärke ohne politische Erzählung an Wirkung verliert – und wie sich das global bemerkbar macht.
Hinweis zur Einordnung
Ausgangspunkt dieser Analyse ist ein Interview mit Palantir-Chef Alex Karp im Handelsblatt, in dem er die internationale Wahrnehmung Deutschlands im Kontext von Sicherheit, Macht und strategischer Handlungsfähigkeit kritisch beschreibt. Der Text greift diese Diagnose auf und entwickelt sie analytisch weiter, ohne die Positionen des Interviewpartners zu übernehmen.
Quelle Bild: OSCE Parliamentary Assembly, unverändert




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