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Warum Deutschlands Schulen den Kampf um die Demokratie nicht mehr allein tragen können

Die Diagnose ist so deutlich wie unbequem: Deutschlands politische Bildung soll die Demokratie retten – und scheitert zunehmend an einem Anspruch, den sie nie allein erfüllen konnte. Das zeigt ein Gespräch zwischen der Moderatorin Romy und dem Politikwissenschaftler Vural Kaptan, das zugleich ein präzises Lagebild liefert: Überforderte Schulen, ein missverstandener Beutelsbacher Konsens, parteipolitischer Druck und eine Gesellschaft, die längst nicht mehr auf einem Schachbrett diskutiert, sondern auf einem Rugbyfeld kämpft .


Während Politikerinnen und Politiker reflexhaft „mehr politische Bildung“ fordern, offenbaren sich tiefer liegende Probleme: strukturelle Unterfinanzierung, unzureichend ausgebildete Lehrkräfte und eine politische Rhetorik, die Verantwortung nach unten delegiert – in die Klassenzimmer.


Und die stehen längst im Kreuzfeuer.


Wenn das Klassenzimmer zum Schlachtfeld wird

Der Kern des Problems kristallisiert sich im Umgang mit der AfD und rechtsextremen Strukturen heraus. Kaptan beschreibt einen Mechanismus, der weit über Schulen hinausreicht: Rechtsextreme Akteure instrumentalisieren den Beutelsbacher Konsens, indem sie das Überwältigungs- und Kontroversitätsgebot als angebliches Neutralitätsgebot auslegen – und damit Lehrkräfte einschüchtern .


Besonders drastisch: Die von der AfD initiierten digitalen Meldeplattformen, über die Lehrkräfte denunziert werden können, wenn sie Kritik an der Partei äußern. Für Romy ist das „absoluter Wahnsinn“ – ein Denunziationssystem, das bereits Auswirkungen zeigt: Selbstzensur in Lehrerzimmern, Vermeidung kritischer Themen im Unterricht, Rückzug aus Verantwortung.

Eine Lehrkraft, sagt Kaptan, müsse sich „prozessual offen, aber substanziell demokratisch“ verhalten dürfen. Das heißt: Alle Meinungen hörbar machen – aber verfassungsfeindliche Positionen klar zurückweisen. Wo Antisemitismus geäußert wird, müsse die Lehrkraft einschreiten, nicht schweigen .


Doch genau diese notwendige Klarheit wird zunehmend kriminalisiert.


Ein Konsens aus 1976 – und eine Realität aus 2025

Die politische Bildung in Deutschland ruht normativ auf dem Beutelsbacher Konsens von 1976. Ein Minimalkompromiss der damaligen Zeit, geprägt von ideologischen Grabenkämpfen zwischen links und rechts. Drei Prinzipien bilden sein Fundament:

  1. Überwältigungsverbot – Lehrkräfte dürfen Schüler*innen keine Meinung aufzwingen.

  2. Kontroversitätsgebot – Was in der Gesellschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden.

  3. Schülerorientierung – Junge Menschen sollen ihre eigene Interessenlage analysieren und vertreten lernen.


Doch wie politisch ist dieser Konsens noch, wenn die demokratische Grundordnung offen angegriffen wird? Wie kontrovers muss man eine Partei behandeln, die demokratische Prozesse delegitimiert? Ist Faschismus eine „kontroverse“ Position oder eine Bedrohung?

Diese Fragen sind nicht theoretisch. Sie prägen den Alltag in Klassenzimmern.


Ein Schachbrett, das zum Rugbyfeld wurde

Kaptan prägt ein Bild, das sich durch das gesamte Gespräch zieht: Politische Bildung basiert auf der Idee eines rationalen, herrschaftsfreien Diskurses – einem Schachspiel. Doch die Realität ist längst ein Rugbyfeld: ruppig, emotional, gezielt destruktiv .


„Die Redlichkeit der demokratischen Akteure existiert nicht mehr in der Form wie früher“, sagt Kaptan. Desinformation, Polarisierung, algorithmische Verstärkung – all das hat den Diskurs von Grund auf verändert.


Und dennoch arbeiten Schulen mit Konzepten aus einer Zeit, in der politische Konflikte noch einem gemeinsamen Regelwerk folgten.


Politische Bildung als Projektionsfläche kollektiver Hilflosigkeit

Kaptan spricht von einem „unrealistischen Heilsversprechen“. Politikerinnen und Politiker hätten sich angewöhnt, strukturelle Demokratieprobleme in den pädagogischen Raum zu verschieben: Man müsse „nur mehr politische Bildung“ betreiben. Ein symbolischer Rückpass zum Torwart – während die Verteidigung versagt hat .


Doch wer ruft am lautesten nach mehr politischer Bildung?

Ausgerechnet diejenigen, die gleichzeitig Bildungsbudgets kürzen, Lehrkräfte alleinlassen und Schulpolitik der parteipolitischen Logik unterwerfen.


Romy nennt es Verantwortungslosigkeit: „Die Politik spielt Alibi-Pässe, um ihr eigenes Versagen nicht zu thematisieren.“ Und der Rückpass landet bei denjenigen, die am wenigsten ausgestattet sind, ihn zu halten: den Schulen.


Wo politische Bildung scheitert – und warum das brandgefährlich ist

Die Schwachstellen ziehen sich über mehrere Ebenen:


1. Soziale Ungleichheit

Junge Menschen aus bildungsfernen oder antidemokratischen Haushalten profitieren besonders stark von politischer Bildung – erhalten sie aber am wenigsten. Die prekär ausgestatteten Schulen der Sekundarstufe I sind jene, in denen politische Bildung dringend wäre, aber kaum qualitativ stattfinden kann.


2. Fachfremd unterrichtende Lehrkräfte

Politikunterricht wird in vielen Bundesländern von Lehrkräften ohne politikwissenschaftliche oder demokratiepädagogische Ausbildung übernommen. Ambivalente Situationen im Klassenzimmer werden dadurch noch schwieriger.


3. Fehlende Konfliktkultur

Die politische Bildung orientiert sich am deliberativen Ideal: Harmonie, rationaler Konsens, Verständigung. Doch Demokratien brauchen Streit – fairen, klaren, demokratischen Streit. Einen Streit, der nicht unterdrückt, sondern befähigt.


4. Der Verlust demokratischer Sozialisation

Wo früher politische Jugendorganisationen an Schulen und Universitäten präsenter waren, herrscht heute Leere. Politische Sozialisation findet algorithmisch statt – nicht im Seminarraum, sondern auf TikTok.


Was Schulen brauchen – und was sie nicht mehr leisten können

Kaptans Vorschlag ist radikal und notwendig:

Schulen müssen Orte demokratischer Praxis sein – nicht nur Vermittler demokratischer Theorie.


Konkret heißt das:

  • Pro- und Kontra-Debatten verpflichtend einführen.Schüler*innen müssen lernen, gegenteilige Positionen argumentativ zu vertreten.

  • Ambiguitätstoleranz stärken.Demokratie ist nicht die Suche nach der einen Wahrheit, sondern das Ringen um legitime Alternativen.

  • Parteien in Schulen zulassen – breit, transparent, begrenzt.Politische Bildung heißt auch politische Begegnung. Nicht Indoktrination, sondern Einordnung.

  • Lehrkräfte stärken – juristisch, finanziell, pädagogisch.Wer verfassungsfeindliche Positionen zurückweist, darf nicht denunziert werden.


Demokratie braucht Streit – und Lernräume für diesen Streit

Die Diskussion verweist auf ein weiteres Thema: das Toleranzparadoxon nach Karl Popper, das auch in Kevin Kienles Essay „Das Toleranzparadoxon: Warum liberale Gesellschaften lernen müssen, Nein zu sagen“ aufgegriffen wird. Liberale Gesellschaften müssen lernen, Nein zu sagen – gerade dort, wo Demokratiegegner ihre Offenheit ausnutzen.


Romy formuliert es klar: „Gegenüber einer rechtsextremen Partei, auch wenn sie in Umfragen vorn liegt, braucht es klare Haltelinien.“


Konflikt ist kein Versagen des demokratischen Diskurses. Er ist seine Essenz.


Die politische Bildung kann nicht retten, was die Politik selbst zerstört

Zum Schluss ein Satz Kaptans, der wie ein Brennglas wirkt:

„Die politische Bildung kann politische Prozesse kritisch begleiten – aber die Lösung politischer Probleme bleibt Aufgabe des politischen Systems.“

Die Schule ist nicht der letzte Rettungsring der Demokratie.Sie ist der Ort, an dem junge Menschen lernen, wie Demokratie funktionieren könnte.Damit sie funktioniert, braucht es aber politische Akteure, die sie auch leben.


Politische Bildung ist unverzichtbar – aber nicht der Notnagel eines hilflosen Staates.



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