Zwischen Fermentation und Feinsinn: Wie das Tisane Nürnberg kulinarisch neu definiert
- Kevin Kienle
- 16. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Ein Abend wie eine Partitur – im Tisane wird nicht serviert, es wird inszeniert
Ein Besuch im Tisane ist kein Abendessen – es ist ein Erlebnis. In einer Stadt, die gastronomisch gerne zwischen fränkischer Bodenständigkeit und internationaler Fusion pendelt, markiert das Tisane ein neues kulinarisches Koordinatensystem: Hier wird nicht gekocht, hier wird komponiert. Was Küchenchef René Stein und sein Team auf die Teller bringen, ist sensorisches Theater, präzise inszeniert, überraschend, mutig und doch geerdet.
Die Bühne: Beton, Feuer, Licht
Wer das Restaurant betritt, findet sich in einem Raum wieder, der wirkt wie ein Atelier. Puristischer Beton trifft auf weiches Licht, durchzogen von violettem Neon, das subtil an Berliner Clubs erinnert – ein Hauch von Rebellion im Raum der Stille.Die Küche ist offen, die Gäste sitzen an einer Theke aus grobem Stein, blicken direkt in die Kulinarikmaschine. Kein Vorhang, keine Showküche – hier wird geschwitzt, geflämmt, angerichtet. Echt. Transparent. Großartig.
Ein Anfang, der leise knistert
Die ersten Noten des Abends: warmes Brot, zartes Salzbutterspiel. Schlicht – und gerade deshalb so wirkungsvoll. Dazu ein Amuse-Bouche, das neugierig macht. Rindertatar auf fluffigem Brioche mit einer würzigen Mayonnaise – eine Reminiszenz an Klassiker, aber mit feiner Kante.
Zwischen Suppe und Sud: flüssige Geschichten
Eine kräftige Brühe trägt die Pasta, die an feuchte Waldböden erinnert, erdig, herb, tief. Das Öl darauf: leuchtend grün, fast schon alchemistisch. Ein Gang, der entschleunigt und aufhorchen lässt.

Winter auf dem Teller: Bitterkeit, Erde, Salz
Was folgt, ist ein kunstvoller Stillstand: Grünkohl, Rote Bete, frittiertes Kohlgemüse – das alles auf einem Sud, der schmeckt wie ein Wald im Spätherbst. Eine Kugel aus Roter Bete glänzt dunkel und süß-säuerlich, die salzigen Kohlchips knistern auf der Zunge. Hier wird Winter nicht beklagt, sondern gefeiert.

Schwarzkohl neu gelesen
Was folgt, ist ein Meisterwerk: Schwarzkohl in all seinen Aggregatzuständen – mariniert, püriert, frittiert – begleitet von einer Vanillesauce und hauchdünnen Serranochips. Hier wird Gemüse zur Hauptsache und Vanille zur Provokation, ohne je ins Kitschige zu kippen.

Das Eigelb – ein Signature-Moment
Ein dampfgegartes Eigelb in Sojasauce, flankiert von Feldsalat und Chitalke-Pilzen. Minimalistisch, japanisch inspiriert, fast meditativ. Wer hier noch nicht begriffen hat, dass im Tisane jede Zutat eine Rolle spielt, der hat nicht genau hingeschmeckt.
Meer und Wild: Kraft trifft Eleganz
Der gebeizte Kabeljau mit Kaviar, Kartoffeln und Austern-Buljotee wird unter einer Wärmelampe finalisiert – ein aromatischer Balanceakt zwischen Jod, Salz und zart schmelzender Textur. Es folgt die Taube: serviert mit süß-sauer eingelegten Preiselbeeren, einer aromatischen Imperialtraube und einem mit Leberwurst gefüllten Tortellino. Eine wilde Kombination – doch sie funktioniert. Und wie.
Tepache & Duroc: Ferment trifft Feuer
Der fermentierte Tepache-Gang mit Ananas, Rum und frittiertem Fruchtfleisch ist eine tropische Verschnaufpause – gleichzeitig Dessert, Intermezzo und Digestif. Danach folgt das gegrillte Duroc-Schwein mit Kohlrabi-Salat, Essiggurke und Ahornsirup. Der Holzkohlenrauch verleiht dem Gang archaische Tiefe, das Dillöl sorgt für Frische.
Finale furioso: Kürbis und Kokosbuchtel
Hokkaido wird in allen Formen gedacht: als Eis, geröstet, getoastet. Texturkontrast meets Temperaturschock – raffiniert. Der Schlussakkord, eine fluffige Buchtel mit Kokos-Mandel-Creme und Ahornsirup, ist purer Trost – wie eine Umarmung nach einem langen Gespräch.
Begleitung mit Feingefühl: Wine & Juice Pairing
Selten gelingt es einem Restaurant, alkoholische und nicht-alkoholische Begleitungen auf Augenhöhe zu präsentieren. Im Tisane gelingt beides. Die Wine Pairings reichen vom frischen 2023er Lagrein Rosé aus Südtirol über den slowenischen Vino Gross (2022 Gora Haloze) bis zum komplexen, im Holz gereiften HELMUT Barrel Aged aus Hamburg. Besonders eindrucksvoll: die Rioja-Note von Juan Carlos Sancha und ein eleganter Pinot & Chardonnay Brut von Van Volxem.
Zeitgleich überzeugt das Non-Alcoholic Pairing mit erstaunlicher Tiefe. Rote Bete, Ingwer und Holunder zum Einstieg – mehr Aperitif als Saft. Darjeeling und Sencha treffen auf Citrusnoten, Waldbeeren auf Wacholder und Piment. Spätestens beim pairing von Cranberry, Estragon und Hibiskus wird klar: Hier wird nicht kompensiert, sondern kreiert. Und wer die Aprikose mit Buchweizen und Verbene erlebt hat, weiß: Alkoholfreie Begleitung kann berauschender sein als jede Promille.
Fazit: 650 Euro, die man schmeckt – und fühlt
Zugegeben: 650 Euro für zwei Personen mit Weinbegleitung sind ein Statement. Doch jeder Gang war durchdacht, jeder Moment ein Puzzle der Sinne. Service, Licht, Dramaturgie – alles folgt einem Plan, der nie ins Mechanische kippt. Das Tisane erhebt die Küche zur Kunstform, ohne Arroganz. Es erzählt Geschichten auf Tellern – von Wäldern, Jahreszeiten, Techniken, Texturen – und vor allem von Leidenschaft.
Das Tisane ist nicht einfach ein Restaurant. Es ist das neue Herz der kulinarischen Avantgarde Nürnbergs.
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