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Über Schuld und Schulden – Wie sprachliche Konventionen die politischen Debatten und das Zahlungsverhalten beeinflussen

Autorenbild: Vural C. KaptanVural C. Kaptan

Der kürzlich vom Bundeskanzler Olaf Scholz aus dem Amt des Finanzministers geschasste Christian Lindner tritt vor die Kamera. Scholz habe von ihm dringlich verlangt, die Schuldenbremse vorübergehend auszusetzen, um die Lücke im Bundeshaushalt zu schließen. Diesen Vorstoß habe er abgelehnt, um seinem Amtseid treu zu bleiben.


Dem Ampel-Aus sind andauernde Spannungen und Diskussionen über die Schuldenbremse vorausgegangen. Die im Grundgesetz verankerte Regelung zur Beschränkung der Neuverschuldung des Bundes und der Länder bestimmt gelegentlich die tagespolitischen Debatten. Für liberal-konservative Kräfte stellt sie einen Stabilitätsanker dar, während sie von rot-grünen Akteuren als Investitionsblocker erachtet wird. Ähnlich gegensätzlich ist die Einschätzung in Meinungsumfragen.[1]


Abbildung 1: Umfrage zur Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland im Juni 2024

Die Eurokrise als Zusammenstoß unterschiedlicher Schuldenaufnahmementalitäten

Über Schulden wird auch im europäischen Kontext gerungen. Nach der Einführung des Euro als gemeinsame offizielle Währung im Jahr 2002 verfolgten einige EU-Staaten eine ungezügelte Verschuldungspolitik, welche aufgrund der niedrigen Zinsen begünstigt wurde. Insbesondere Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien, die sogenannten „PIIGS-Staaten“, gerieten seit 2010 unter massiven Druck der internationalen Finanzmärkte. Aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit drohte ihnen die Zahlungsunfähigkeit. Dies führte zu einer Reihe von Maßnahmen zur Stützung der Krisenstaaten durch die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfonds. Im Zuge der Eurokrise wurden vonseiten der EU und den Mitgliedsstaaten wechselseitige Kontrollmechanismen in Gang gesetzt, um die Eurozone krisenfester zu gestalten. Die Medienvertreter der betroffenen PIIGS-Staaten bemängelten diese Mechanismen als Einsparungsmaschinerien, die auf die Substanz der jeweiligen Bevölkerungen gehen.[2] Besonders in Griechenland löste das Krisenmanagement des damaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble eine Gegenreaktion aus. Der als Erbsenzähler dargestellte CDU-Minister galt im Zuge der Eurokrise als einer der Protagonisten für die Durchsetzung des harten Spardiktats.


Nachträglich lassen sich jene innereuropäischen Zerwürfnisse als Zusammenstoß grundverschiedener Schuldaufnahmementalitäten bewerten. Während die südeuropäischen Staaten zur ungehemmten Aufnahme von Schulden neigen, steht für Deutschland die fiskalpolitische Solidität im Vordergrund, die maßgeblich von der Schuldenbremse garantiert wird. Die konkreten Motive für die unterschiedliche Herangehensweise bleiben bei dieser Beschreibung jedoch noch ungeklärt. Eine eigentümliche deutschsprachige Konvention könnte Aufschluss darüber geben, warum Schulden ein sensibles Thema für die Deutschen darstellt.


Abbildung 2: Staatsverschuldung in den EU-Ländern in Relation zum BIP im 2. Quartal 2024[3]

Schuld(en) kontra Debt und Guilt

Wenn jemand absichtlich eine Person ermordet, ist er oder sie schuldig. Wenn jemand von einer Person oder Institution Geld leiht, hat er oder sie Schulden. Während die englische Sprache ersteres als guilt und zweiteres als debt bezeichnet, gibt es im Deutschen lediglich das Wort Schuld im Singular oder Plural. Der Ausdruck stammt aus dem Altdeutschen sculd und beschreibt sowohl die Zahlungsverpflichtung als auch das sittliche Vergehen, Unrecht und die Missetat.[4]


Die gemeinsame sprachliche Wurzel lässt auf eine kulturelle Verbindung zwischen der Vorstellung, Geld zu schulden und moralisch schuldig zu sein, schließen. Dies ist der Ausdruck einer kollektiven Mentalität, in der die Begleichung von Geldschulden nicht nur eine finanzielle Verpflichtung, sondern auch ein moralisches Gebot ist.


Philosophische Prinzipien: Max Weber und der Protestantismus

Die sprachlichen Raffinessen sind Ausdruck entsprechender Geisteshaltungen, die von religiösen und philosophischen Traditionen durchdrungen sind. Es war der deutsche Soziologe Max Weber, der einige Prinzipien des calvinistisch geprägten Protestantismus als mögliche Ursachen für den Profitethos des modernen Kapitalismus untersuchte.[5]Er warf die Frage auf, wie es kommt, dass Unternehmer und Arbeiter im Kapitalismus fortwährend nach mehr Gewinn streben, ohne aus diesem Gewinn einen entsprechenden Genuss zu ziehen. Eine Frage, die im Hinblick auf die enge Verzahnung von Profit und Konsum gegenwärtig wohl kaum jemand so stellen würde. Die Glaubenslehre des Calvinismus basiert auf dem Prädestinationsglauben. Dies ist der Glauben daran, dass Gott vorherbestimmt, welche Menschen die Erlösung finden. Der asketische Protestant fragt sich folglich andauernd, ob sein ökonomischer Erfolg ihm als Zeichen der Erwähltheit dienen kann, oder ob er noch weitere Bedürfnisse zugunsten der Ökonomisierung seiner Lebenszeit zurückstellen muss. In der protestantischen Lebensführung ist der Gelderwerb nicht Mittel, sondern der letzte Zweck der Lebensführung. Die Wahrung der Frömmigkeit wird durch die Vermeidung von Zeitvergeudung und Muße möglich, die von dem Streben nach heiligem Leben ablenken. Im Hintergrund steht die grundlegende Maxime kreditwürdig zu bleiben. Die Kreditwürdigkeit ergibt sich aus der Fähigkeit des Schuldners, verbindliche und zeitadäquate Versprechen abzugeben.[6] Nur so empfiehlt sich der fromme Mensch, das Reich Gottes zu betreten. In diesem Zusammenhang stellt die übermäßige Aufnahme von Schulden nicht nur eine finanzielle Bürde dar, sondern auch ein Verstoß gegen die ethische Pflicht, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu leben. Ökonomische Verschuldung und ethische Schuld sind zwei Seiten derselben Medaille.


Wie Krisen das kulturelle Gedächtnis prägen

Neben den sprachlichen Konventionen und religiösen und philosophischen Prinzipien des calvinistischen Protestantismus bietet die deutsche Geschichte einen weiteren Hintergrund für den bedachtsamen Umgang der Deutschen mit Schulden. Die Hyperinflation der Weimarer Republik in den 1920er Jahren hat eine bleibende Narbe im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hinterlassen. Eine schwere Bewährungsprobe erwartete die junge Republik im Jahr 1923. Der Staat war bankrott. Um dennoch die Schulden des Ersten Weltkriegs begleichen zu können, wurde ständig mehr Geld gedruckt. Dieses verlor jedoch rasant an Wert.[7] Das Resultat war ein Teufelskreis, der zur Verarmung von Millionen von deutschen Bürgerinnen und Bürgern führte und den Weg für den Aufstieg der Nationalsozialisten ebnete. Die Erfahrung, eigene Ersparnisse über Nacht vernichtet zu sehen, löste eine tiefverwurzelte Furcht vor finanziellen Schieflagen aus. Die wirtschaftlichen und moralischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs verstärkten in Deutschland die Überzeugung, dass die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit im Umgang mit öffentlichen Geldern für die Stabilität der sozialen Ordnung und Gewährleistung der nationalen Sicherheit unerlässlich sind.


Das Wirtschaftswunder ab den 1950er Jahren beruhte auf jenen Grundsätzen und transformierte das krisengebeutelte Deutschland zum ökonomischen Schwergewicht Europas. Das Erbe dieser Zeit zeigt sich noch immer in der Rolle Deutschlands in der EU. Wie in der Eurokrise tritt die Bundesrepublik häufig für eine strenge Finanzpolitik ein – zum Verdruss der schuldenverträglicheren EU-Mitgliedsstaaten.


Zahlungsverhalten: Bar oder mit Karte?

Wann immer James Bond im ikonischen Agentenfilm ein Hotelzimmer oder einen Flug für seine Spezialmissionen benötigt, zückt er mit unübertroffener Leichtigkeit seine Kreditkarte, um die Transaktion abzuschließen. Der Besitz einer Kreditkarte signalisiert einen hohen sozialen Status und Wohlstand. Dies gilt im Besonderen für den angelsächsischen Kulturraum. Die deutschsprachigen Länder Europas unterscheiden sich hinsichtlich des Zahlungsverhaltens ihrer Bürgerinnen und Bürgern von den restlichen europäischen Staaten. Während Deutschland, Österreich und die Schweiz eher die Barzahlung bevorzugen, sind Frankreich, Spanien und Italien weitaus aufgeschlossener gegenüber der Zahlung mit Kredit- und Debitkarten.[8] Obgleich Menschen in Deutschland mit steigender Tendenz die Zahlung mit Karten und elektronischen Zahlungsmethoden bevorzugen, war nach Angaben der Deutschen Bundesbank Bargeld nach wie vor das am häufigsten verwendete Zahlungsmittel im Jahr 2023.[9] Das Motto „nur Bares ist Wahres“ wird in Österreich gar noch größer geschrieben als in Deutschland. Vergangenes Jahr verkündete der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, Bargeld als Zahlungsmittel verfassungsrechtlich zu verankern.[10] Der Erhalt des Bargelds ist zum Kulturkampf geworden. 

Im Einklang mit den unterschiedlichen Zahlungsverhalten zeigen drei Ökonomen in einer Studie auf, dass Personen, deren Muttersprache für finanzielle Schulden und moralische Schuld denselben Begriff vorsieht, eine signifikant geringere Bereitschaft zur Kreditaufnahme aufzeigen.[11] Gleichwohl der Zusammenhang bemerkenswert ist, wäre es irreführend, diese Forschungsergebnisse als ursächliche Faktoren für das Zahlungsverhalten deutschsprachiger Konsumenten aufzufassen.


Abschließende Bemerkungen

Der sprachliche Gleichklang von Schuld und Schulden gibt eine kulturelle Geisteshaltung zu erkennen, die finanzielle Verpflichtungen mit moralischen Pflichten verbunden sieht. Die Krisenerfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus prägten das kulturelle Gedächtnis der Deutschen. Die verinnerlichte Tugend der Sparsamkeit findet Ausdruck im Zahlungsverhalten deutschsprachiger Menschen, die entgegen globalen Entwicklungstendenzen nach wie vor mehrheitlich bar auf die Kralle zahlen. Um zu verstehen, wie sich kulturelle Verhaltensmuster herausbilden und erhalten bleiben, ist es ratsam, sich mit sprachlichen Eigentümlichkeiten, philosophischen Traditionen und geschichtlichen Erfahrungen zu beschäftigen.


[1] Henrich, Philipp: Umfrage zur Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland im Juni 2024, in: Statista, 28.06.2024, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1425327/umfrage/lockerung-der-schuldenbremse/ (abgerufen am 09.12.2024).   

[2] Hüttmann, M. Große. Eurokrise. Das Europalexikon, in: bpb, 2020, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/176846/eurokrise/ (abgerufen am 09.12.2024).

[3] Urmersbach, Bruno. Staatsverschuldung in den EU-Ländern in Relation zum BIP im 2. Quartal 2024, in: Statista, 30.10.2024, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163692/umfrage/staatsverschuldung-in-der-eu-in-prozent-des-bruttoinlandsprodukts/ (abgerufen am 10.12.2024).

[4] Ziegler, Sabine. Etymologie: Schuld, in: Deutsche Wortfeldetymologie in eu­ro­pä­ischem Kon­text, 2024, https://dwee.saw-leipzig.de/etymology/Schuld_1/de (abgerufen am 10.12.2024).

[5] Weber, Max. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München, C. H. Beck, 2004.

[6] Szews, Johann. Zahlungsmoral. Überlegungen zum Zusammenhang von Schuld und Schulden mit Nietzsche, Weber und Bourdieu, in: Cluster of Excellence The Formation of Normative Orders, 2017.

[7] Delvaux de Fenffe, Gregor. Weimarer Republik. Die Hyperinflation von 1923, in: Planet Wissen, 22.10.2019, https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/weimarer_republik/pwiediehyperinflationvon100.html (abgerufen am 10.12.2024).

[8] Flippo, Hyde. Banking and Credit Cards in Germany, in: The German Way & More, 2023, https://tinyurl.com/28dky6p3 (abgerufen am 13.12.2024).

[9] Deutsche Bundesbank. Zahlungsverhalten in Deutschland 2023, 01.07.2024, https://tinyurl.com/23xwrrf4 (abgerufen am 13.12.2024).

[10] Leitner, Christine. Münze oder kontaktlos? Österreich klammert sich ans Bargeld – in anderen Ländern zahlt man lieber mit Karte, in: Stern, 06.08.2023, https://tinyurl.com/2dm35pv9 (abgerufen am 13.12.2024).

[11] Bogatzki, Tamara et al. Guiltily Indebted? How a Word Can Affect Individual Borrowing, in: CREMA Working Paper, 2019.


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